Bordell, Kirche, Psychoanalyse und ADAC

Mai Wegener


Im Nachdenken über die Psychoanalyse, den Salon hier und unser skeptisches Verhältnis zur Institution kamen mir vor kurzem aus dem Roman, den ich gerade lese, einige Sätze entgegen, die mich seither beschäftigen. Es handelt sich um Das Provisorium von Wolfgang Hilbig. Ich werde zuerst diese Stelle vorlesen und kommentieren und erst danach ein paar Worte zu dem im Jahr 2000 erschienen Roman sagen.

 

Es gab natürlich in dieser Gesellschaft für jedes Problem, das man mit sich herumschleppte, eine Institution, die speziell dafür sachverständig war und nur darauf wartete, dass man sich in ihre Obhut begab. Da waren zum Beispiel das Sozialamt, die Anonymen Alkoholiker und die Steuerberater, es gab die Kirche, es gab Bordelle und alle Zweige und Nebenzweige von Psychotherapie, und für die echten Probleme gab es den ADAC. Überall konnte man hingehen oder anrufen, und überall wurde man, nach einem klärenden Vorgespräch, dankbar aufgenommen. Aber um wen, fragte man sich, ging es denn eigentlich in all diesen Institutionen. Verspürte man kein Gelüst, in den Puff zu gehen, dann wurde eben ein anderer abgewichst. Konnte man nicht zur Psychoanalyse gehen, dann legte sich auf dieselbe Couch ein anderer. Fühlte man sich nicht in der Verfassung zu beichten, dann wurde die Absolution einem anderen erteilt.

Unter diesen Umständen war es nicht loyal, weder korrekt noch konform, wenn man seinen Klagen freien Lauf ließ. Man hätte doch bitte sehr, seinen Termin nicht verpassen sollen, den Bordell- oder Analyse-Termin, oder den Gottesdienst am Sonntag … (Hilbig 2000: 185f. )

 

Hilbig trifft einen Ton hier, sehr präzise, wie ich finde: „das klärende Vorgespräch“ – das ist der Ton der Psychologie, eine Sprache, die ich aus dem Psychologiestudium kenne, eine Art freundlicher Geschäftigkeit – und es gibt den „Sachverstand“ wie die „Obhut“ für die wissenschaftliche und die karitative Seite.

Aber das besondere ist die Reihe, die Hilbig hier aufmacht. Die großen Institutionen des Abendlandes: die Kirche, und die noch ältere und noch weiter verbreitete: das Bordell stehen zusammen mit den Errungenschaften des modernen Sozialstaates des Westens.

Die Nebeneinanderstellung von Kirche und Bordell ist vielleicht nicht mehr so anstößig für Psychoanalyse gewöhnte Ohren. Und auch Hilbig selbst macht, außerhalb psychoanalytischer Überlegungen, an einer späteren Stelle des Buches eine Bemerkung speziell über ihre Beziehung. Er stellt fest: „Es gab etwas Verbindendes zwischen diesen beiden Institutionen, das unausgesprochen war und unberührt blieb: es war das geheime Band, das zwischen Lust und Entsagung gezogen war.“ (245)

 

Aber es geht in der gelesenen Passage ja gar nicht um das Verhältnis der Institutionen untereinander oder um die Differenzierung verschiedener Typen von Institutionen – die Aufzählung kehrt sich nicht um die Unterschiede. Worauf die Passage zielt, das ist der Stil des institutionellen Umgangs mit Leid und Lust in unserer Kultur, in der ja all diese ‚Angebote’ nebeneinander bestehen.

Die Pointe liegt zweifelsohne in der Hinzufügung des ADAC. Der Automobilclub gibt den entscheidenden Hinweis: Es geht darum, dass es läuft. Wenn das Auto nicht mehr läuft, dann gibt’s kein Pardon. Beim Auto werden die Leute empfindlich, und ein Auto ist überhaupt nur interessant, wenn’s läuft. Es geht in dieser Institutions-Kultur darum, dass es läuft und wenn’s nicht läuft, dass es wieder zum Laufen gebracht wird.

Und zuallererst hat die Institution zu laufen. Zuallererst geht es um diese selbst. Das Vorherrschen der Selbsterhaltung ist einer der ersten Institutionseffekte. (Wozu werden Institutionen geschaffen, wenn nicht für die Dauer.)

Für die Einzelnen, die diese Institutionen durchlaufen, gilt eine strukturelle Austauschbarkeit, die Hilbig hier ja überdeutlich aufs Korn nimmt: Einer nach dem anderen wird abgefertigt.

Die Kundschaft wird unter der Maßgabe aufgenommen, im Rahmen der Institution zu laufen bzw. wieder zum Laufen gebracht zu werden. Für das Besondere ist hier kein Platz vorgesehen. Das, was sich da nicht einfügt, tritt tendenziell als Störung auf oder, kann auch sein, als Girlande, als Zier, als Troddel.

Die Passage musste mir auffallen, betonen wir doch im Salon so nachdrücklich, dass für den Einzelnen, die Einzelne als Einzelne(r) Platz sein möge.

Die Psychoanalyse, so wie sie mich interessiert, hat mit dem zu tun was nicht läuft und zwar konstitutiv nicht läuft, sich nicht schaltet – so habe ich immer die Insistenz des Unbewußten verstanden, so wie Freud und Lacan von ihm schreiben.

Daher ist das Verhältnis der Psychoanalyse zur Institution überhaupt und zu den Institutionen des modernen Sozialstaates, in denen das Funktionieren (dass es läuft) wahrscheinlich eine größere Bedeutung hat, so heikel.[1]  Und daher ist mir auch eine Psychoanalyse, die in die Aufzählung Hilbigs sich einfügen lässt (und die gibt es ja), so langweilig. Wenn sie an diese Schwierigkeit nichts stößt, dann weiß ich nicht, was sie umtreibt, was sie interessiert – mit dem, was unmöglich läuft, mit dem Unbewussten scheint sie es nicht zu haben.

 

Ich möchte noch einen Gedanken weiter denken und die Polemik wieder verlassen. Hilbig ist polemisch hier – und ich bin es mit ihm.

Seine Passage bekommt einen anderen Klang, einen anderen Stand, wenn man sie im Roman wahrnimmt. Sie bleibt eine Notiz seines Unbehagens in der Kultur, aber sie nimmt eine andere Richtung, einen anderen Zug an, wenn man sie als Teil des Gedankenzusammenhangs der Hauptfigur C. liest. C. – der ganz unverdeckt Hilbigs Romandoppel ist – ist ein Schriftsteller aus der DDR, der 1985 durch ein Visum in den Westen gekommen ist. Das Provisorium des ersten Jahres, in dem ihm das Visum erlaubt die Grenze nach beiden Richtungen zu passieren, hält auch an, nachdem der Protagonist im Westen bleibt. C. ist auf eine innere Weise ortlos. Und er vermag seine Angstzustände nur noch mit zunehmenden Mengen von Alkohol zu betäuben. Ihm ist das „psychische Gelände“ (so heißt es im Roman) abhanden gekommen, das ihm die Grundlage, eine Art Existenzbeweis „seiner Eigenschaft als Schriftsteller“ (24/5) war.  C. hängt mit seiner Seele – diesem psychischen Gelände – im Osten.

Die Passage, die ich vorgelesen habe, schließt direkt an einen Angstanfall an. Von dort her gelesen wird sie zum Ausdruck einer Insistenz, diese Angst, diesen Schmerz, sein Begehren (Hilbig benutzt das Wort) nicht diesen Institutionen auszuliefern.

Dass es dieses Buch gibt, ist das Resultat dieser Insistenz, ich möchte sagen, einer Treue zum Begehren und zur Angst, zu dem was nicht geht: hier etwas zum Sprechen zu bringen.

Das ist dann kein „Seinen-Klagen-freien-Lauf-lassen“ geworden, wie es am Ende der obigen Passage im Text heißt, und auch keine freie Assoziation, sondern ein Kunstprodukt: eine sehr geformte, bearbeitete Sprache, nahe der Lyrik, von der Hilbig herkommt.

Aber in dieser Sprache schreibt er dann wiederum von einer Erfahrung des Sprechens, die es so auch in einer Psychoanalyse geben könnte. (Bei Hilbig geht es um eine öffentliche Lesung der Hauptfigur seines Romans.) Diese Passage möchte ich Ihnen zum Schluss vorlesen.

 

 Es war, als ob sich seine Wörter, im Verein mit dem Atem, wenn sie aus seiner Brust kamen, durch einen Widerstand arbeiten mussten: dieser bestand nicht in einer Verengung, in irgendeinem Knoten in der Kehle, es schien eher so, als hätten seine Wörter einen unheimlich langen Weg zurückzulegen; und wenn er sie endlich ins Freie gestoßen hatte, waren sie derangiert, abgerissen, halb zerquetscht und von Heiserkeit entstellt. Seine Wörter waren auf ihrer langen Wanderung gealtert, gebrechlich geworden. Sie hatten durch feindselige Atmosphären ziehen müssen, durch uralte Wüsten, durch Zeiträume von Verfall, staubbedeckt tauchten sie auf, versalzen, ausgetrocknet in einem Dauergeriesel von feinem Sand, und wenn er sie endlich in der künstlichen Beleuchtung vor einem Podium absetzte, spürte er schon nach zehn Minuten eine Erschöpfung im ganzen Körper, die er nur mit Mühe ignorierte.“ (Hilbig 2000: 155f.)

 

 



[1] Die Kirche anerkennt immerhin das Leiden als Bestandteil des menschlichen Schicksals – aber sie gibt ihm einen Sinn nach ihrer Ordnung (die Religion ist überhaupt der erste Sinnlieferer) und spannt es so wieder in ihre Mühlen ein.